Kategorien
Stellungnahmen Stellungnahmen der Kommission Jugendmedizin

Jugendmedizin in deutschen Kliniken für Kinder und Jugendliche –  eine aktuelle Erhebung

Beitrag als PDF

Einleitung

In vielen der 354 deutschen Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin (1), insbesondere den kleineren Abteilungen, werden primär keine jugendlichen Patienten behandelt, sondern es steht die Betreuung von neonatologischen Patienten und Säuglingen im Vordergrund. Es ist unklar, wieviel Jugendmedizin in diesen Kliniken stattfindet. Im Vordergrund stehen die Fragen, ob die räumlichen und personellen Möglichkeiten bestehen, um Jugendliche altersgemäß zu behandeln. Nachdem im Schulkinderalter die Inanspruchnahme von Kinderkliniken deutlich abnimmt, steigt sie im Jugendalter wieder (1). Die durchschnittliche stationäre Verweildauer bei Jugendlichen liegt bei ca. 8 Tagen. 7.7% aller Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren nehmen mindestens 1x/Jahr einen stationären Krankenhausaufenthalt wahr, dies betrifft insbesondere weibliche Jugendliche (6,4 vs. 9,0 %) (1). Die häufigsten Diagnosen in dieser Altersgruppe sind Depressionen (3,4 Fälle /1000 Kinder bzw. Jugendliche), Bauch- und Beckenschmerzen (3,2 Fälle /1000), Alkoholmissbrauch (2,9 Fälle /1000), Gehirnerschütterung (2,6 Fälle /1000) und Appendizitis (2,4 Fälle /1000). Damit stellen diese Patienten einen signifikanten Anteil von ca. 25% aller Kinder und Jugendlichen mit stationären Aufnahmen dar (2).  Derzeit ist nicht bekannt, wie hoch der Anteil der Kinder- und Jugendkliniken ist, in denen eine strukturierte Weiterbildung in der Jugendmedizin stattfindet (3).

In der aktuellen Weiterbildungsordnung sind jugendmedizinische Inhalte unterrepräsentiert. Pflegepersonal in der Pädiatrie ist häufig auf die Neonatologie und/oder die Versorgung von älteren Säuglingen spezialisiert. Eine Ausbildung zu jugendmedizinischen Themen und den besonderen Bedürfnissen Adoleszenter erfolgt in der Regel nicht. Psychosoziales Personal, das auf die besonderen Probleme Adoleszenter spezialisiert ist, ist in Kinder- und Jugendkliniken nicht vorhanden. Dies sind Vermutungen, die sich aus Beobachtungen ergeben, da bisher keine genaueren Zahlen zu dem Thema der Jugendmedizin erhoben wurden.

Es gibt auch keine strukturierte Erhebung zu der Anzahl jugendlicher Patienten in den Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin. Ebenfalls ist die personelle und infrastrukturelle Ausstattung dieser Kliniken in Bezug auf die Jugendmedizin nicht bekannt. Die Kommission Jugendmedizin der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) hat daher in Kooperation mit dem Verband Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) diese jetzt vorliegende erste Erhebung durchgeführt, um einen fundierten Informationsstand für weitere Planungen zu haben

Methoden

Mittels Google Forms wurde von der Kommission Jugendmedizin der DAKJ ein digitaler Fragebogen zur Situation der Jugendmedizin in Deutschland entwickelt, der vom VLKKD ergänzt wurde (Supplement Tabelle 1). Der Link zum Fragebogen wurde über die eMail-Verteiler der DGKJ und des VLKKD an die ltd. Ärzte der Kinder- und Jugendkliniken und Kinderchirurgien versandt. Die eMail-Listen enthielten insgesamt 361 Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderchirurgien.

Es erfolgte eine explorative Datenanalyse der Ergebnisse.

Ergebnisse

82 Ltd. Ärzte von Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin aus allen 16 Bundesländern haben den Online-Survey beantwortet (Abb. 1). Dies entspricht einer Rücklaufquote von 23 %. Der Anteil der Klinken pro Bundesland entspricht ungefähr der Bevölkerungszahl. Kinder- und Jugendkliniken aller Größen haben an dem Survey teilgenommen (Abb. 2). Von diesen hat die Hälfte einen kommunalen Träger (Abb. 3) und in über 90% der Kliniken ist die Jugendmedizin auch bei der Namensgebung berücksichtigt (Abb. 4). Patienten zwischen 10 und 14 sowie 14 und 18 Jahren machen bei der Mehrheit der Kliniken einen Anteil von 0-30% aus (Abb. 5,6). Nur 7 % der Kliniken haben eine Adoleszentenstation (Abb. 7) aber immerhin ca. 1/3 der Kliniken hat Zimmer, die speziell für Adoleszente geeignet sind (Abb. 8). Nur knapp 60% der Kliniken bieten eine Möglichkeit zum Schulunterricht in der Klinik (Abb. 9).

Immerhin 1/3 der Kliniken bieten eine strukturierte Weiterbildung auch in der Jugendmedizin an (Abb. 10) kombiniert mit Hospitationsmöglichkeiten in der Jugendmedizin bei 40% der Kliniken (Abb. 11). Auf Jugendliche spezialisiertes Pflegepersonal ist aber nur in 20% der Kliniken vorhanden (Abb. 12). Immerhin die Hälfte der Kliniken hat die Möglichkeit, auf Adoleszente spezialisiertes psychosoziales Personal einzusetzen (Abb. 13). In immerhin 60% der Kliniken seien Transitionsprozesse etabliert (Abb. 14) und gut 14% der Kliniken bieten tagesklinische Prozesse für ihre jugendlichen Patienten an (Abb. 15).

Die leitenden Ärzte geben ihrer Gesamtaufstellung für den Bereich Jugendmedizin folgende Schulnoten: Sehr gut 5%, Gut 35%, Befriedigend 33%, ausreichend 20%, mangelhaft 6% und ungenügend 1% (Abb. 16).

Diskussion

Für einen Online-Survey ist die Rücklaufquote gut und die Strukturdaten der beteiligten Kliniken lassen das Ergebnis repräsentativ erscheinen.

Bei ungefähr 40% der beteiligten Kliniken für Kinder und Jugendliche scheinen einige Aspekte der jugendmedizinischen Versorgung bereits gegeben zu sein. In 60% der Kliniken findet noch sehr wenig Jugendmedizin statt, obwohl der Anspruch gelten gemacht wird. Besonders kritisch ist festzuhalten, dass das Pflegepersonal und auch die Ärzte bisher nicht auf die besonderen Bedürfnisse der Jugendlichen geschult sind.  Auch die räumlichen Voraussetzungen im Sinne von Adosleszentenstationen, die zwingend notwendig sind, um Jugendmedizin erfolgreich durchführen zu können sind noch viel zu selten vorhanden. Erfreulich ist, dass die Kliniken, die viele infrastrukturelle Elemente einer Jugendmedizin anbieten, auch für die jugendmedizinische Weiterbildung zur Verfügung stehen.

Wer langfristig die Jugendmedizin im Fach der Kliniken für Kinder und Jugendliche erhalten will, muss sicherstellen, dass es nicht nur außen auf dem Schild steht, sondern auch innen eine entsprechende Versorgung erfolgt. Dies wird nur durch altersgerechte Standards in Struktur und Personal erfolgen können. Es besteht daher der Bedarf einer Festlegung, welche Mindestausstattung räumlich und personell für eine jugendmedizinische Versorgung in den Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin notwendig ist.  Hierzu gehören jugendmedizinische Stationen oder Zimmer für eine räumliche und fachliche Spezialisierung für Jugendmedizin in allen Kliniken für Kinder und Jugendmedizin, die weiter schrittweise eingerichtet werden müssen. Diese müssen auf die Bedürfnisse Jugendlicher eingerichtet sein und damit jugend- und nicht kleinkindgerecht sein. WLAN sowie eine entsprechende Möblierung und ein Aufenthaltsraum mit Computerplätzen sollten angeboten werden. Jugendliche Patienten sollten pflegerisch alterskohortiert und nicht diagnosekohortiert den Stationen zugeordnet sein.

Über die medizinischen Leistungen hinaus besteht die Notwendigkeit auch eine psychologische und eine sozialmedizinische Versorgung der jugendlichen Patienten vorzusehen. Dieses erscheint insbesondere aufgrund der häufigen Diagnosen Depression und Alkoholmissbrauch dringend geboten. Hierbei sind entsprechende interdisziplinäre Behandlungsteams zu etablieren, die auch in die ambulante Medizin verzahnt sind. Erfreulicherweise sind Transitionsprozesse schon in einem großen Teil der Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin etabliert. Diese müssen auch in den übrigen Kliniken noch implementiert werden. Gerade ein stationärer Aufenthalt bietet die Möglichkeit, weiterbetreuende Ärzte nach dem 18.-21. Lebensjahr kennenzulernen. Bei einzelnen Diagnosegruppen können auch Transitionsstationen eine sinnvolle Einrichtung darstellen. Kooperationen mit Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung sind für das spezielle Patientenklientel von Jugendlichen mit Behinderungen zu etablieren.

Im Rahmen der Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin müssen die Weiterbildungsinhalte für Jugendmedizin entsprechend definiert und umgesetzt werden. Entsprechende Vorschläge der Kommission Jugendmedizin der DAKJ wurden bereits eingereicht. Für in den Kliniken tätige Fachärzte sind entsprechende Fortbildungen zu organisieren und durchzuführen. Jugendmedizinische Inhalte sollten in allen kinder- und jugendärztlichen Fortbildungen der DGKJ angeboten werden. Auch Hospitationen in Einrichtungen mit etablierter Jugendmedizin sollten für Kinder- und Jugendärzte ohne jugendmedizinische Erfahrungen ermöglicht werden. Erfreulicherweise bieten genügend Kliniken in Deutschland diese Option an. In der Aus- und Weiterbildung des Pflegepersonals sollte ebenfalls eine besondere Spezialisierung für die Jugendmedizin möglich sein, um eine entsprechend patientenzentrierte Versorgung etablieren zu können. Besondere Aufmerksamkeit sollte der altersgerechten professionellen Kommunikation durch Ärzte und Kinderkrankenschwestern gewidmet werden. Dies kann nur durch entsprechende Schulungen erfolgen. Es kann Sinn machen eine berufsbegleitende Ausbildung zur Jugendkrankenschwester anzustreben. Diese zusätzliche Qualifikation wird helfen eine entsprechende Ansprache der jugendlichen Patienten sicherzustellen, insbesondere wenn die Klinik die 18-21jährigen jungen Erwachsenen medizinisch mit ihren speziellen chronischen Erkrankungen weiter versorgen möchte.

Jugendstationen müssen Stellenanteile von spezialisierten Psychologen sowie Sozialarbeitern mit Erfahrung in den Problemen dieser Altersgruppe zugeordnet sein. Hier sind interdisziplinäre Teams zu etablieren, die dann auch eine bessere Verzahnung in die folgende ambulante Betreuung ermöglichen, um so einen langfristigen Therapieerfolg gerade bei nicht rein somatischen Erkrankungen zu gewährleisten. Auch die Diskussion, wie eine altersgerechte Beschulung der Jugendlichen während des stationären Aufenthaltes sichergestellt werden kann, muss mit den zuständigen Landesregierungen in aller Ernsthaftigkeit geführt werden.

Weiterhin sollten Kooperationen z. B. mit sozialpädiatrischen Zentren oder Kinder- und Jugendpsychiatrien gesucht werden, weil sich für den Patienten dadurch sinnvolle Synergien ergeben.

Teilstationäre und tagesklinische Leistungen sind erfreulicherweise schon in viele Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin möglich. Sie führen häufig gerade bei Jugendlichen zu einer besseren, akzeptierten Behandlung und auch zu einer intensiveren Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Jugendmedizin.

Zur Finanzierung, insbesondere von in der Erwachsenenmedizin nicht vorgesehener Infrastruktur und Leistungen, muss ein Zuschlag für spezifische jugendmedizinische Leistungen kalkuliert und verhandelt werden.

Dieser durchgeführte Survey sollte als Erfassung des Ist-Zustandes der stationären Jugendmedizin dienen. Ziel muss es jetzt sein eine strategische Planung zur weiteren Verbesserung der stationären Jugendmedizin in Deutschland zu ermöglichen. Anhand der Daten können jetzt, sowohl vor Ort in der Klinik aber auch in der Kommission Jugendmedizin, entsprechende Strukturmerkmale formuliert werden.

Danksagung

Wir danken allen Leitenden Ärzten der deutschen Kliniken für Kinder und Jugendliche und Kinderchirurgien für die Teilnahme an diesem Survey.

 

 

Abbildung 1

Abbildung 2


Abbildung 3

Abbildung 4

Abbildung 5

Abbildung 6

Abbildung 7

Abbildung 8

Abbildung 9

Abbildung 10

Abbildung 11

Abbildung 12

Abbildung 13

Abbildung 14

Abbildung 15

Abbildung 16

Supplement Tabelle 1

Fragebogen

In welchem Bundesland liegt Ihre Klinik?             

Wie groß ist Ihre Klinik für Kinder und Jugendliche?        

Welchen Träger hat Ihr Haus?   

Trägt Ihre Klinik „Jugendmedizin“ mit im Titel (z.B. „Klinik für Kinder- und Jugendmedizin“ statt „Kinderklinik“)?      

Wie hoch ist der Prozentsatz der 14-18jährigen Patienten in Ihrer Klinik?

Wie hoch ist der Prozentsatz der 10-14jährigen Patienten in Ihrer Klinik?             

Gibt es in Ihrer Klinik eine Adosleszentenstation?            

Gibt es in Ihrer Klinik spezielle auf Adoleszente ausgerichtete Patientenzimmer (z.B. WLAN, Arbeitsplatz)?    

Gibt es in Ihrer Kinderklinik einen Aufenthaltsraum für Jugendliche (zusätzlich zum „Spielzimmer“), z.B. mit Bibliothek, Gesellschaftsspielen, Computerarbeitsplätzen, Spiele-Konsole getrennt vom Kleinkinder-/Kinderbereich?

Gibt es in Ihrer Klinik eine Klinikschule / Unterricht für Schüler?

Bieten Sie im Rahmen der Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin auch eine strukturierte Weiterbildung in der Jugendmedizin an?

Bieten Sie Hospitationsmöglichkeiten für Ärzte in der Weiterbildung in Jugendmedizin an?

Gibt es in Ihrer Klinik Pflegepersonal, das auf adoleszente Patienten spezialisiert ist?     

Gibt es in Ihrer Klinik psychosoziales Personal, das auf Adoleszente spezialisiert ist?       

Sind in Ihrer Klinik Transitionsprozesse in die Erwachsenenmedizin etabliert?    

Bieten Sie tagesklinische oder tagesstationäre Leistungen für Adoleszente an?  

Sehen Sie Ihre Klinik gut aufgestellt im Bereich Jugendmedizin / halten Sie Ihre Klinik für jugendliche Patienten für attraktiv?

Beurteilen Sie mit einer Schulnote.         

Haben Sie Ideen, wie die Jugendmedizin besser in Ihrer Klinik etabliert werden könnte

 

 

 
Kommission Jugendmedizin der DAKJ
Michael Achenbach (Plettenberg), Priv.-Doz. Dr. med. Verena Ellerkamp (Tübingen), Dr. med. Markus Koch (Bad Hindelang/Oberjoch), Dr. med. Esther Nitsche (Lübeck), Prof. Dr. med. Lars Pape (Essen, Federführung), Dr. med. Mechthild Pies (Frankfurt), Dr. med. Burkard Ruppert (Berlin), Prof. Dr. med. Ronald G. Schmid (Altötting, Kommissionssprecher), Dr. med. Gabriele Trost-Brinkhues (Aachen)
 
Korrespondenzadresse:
Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V.
Prof. Dr. med. Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär
Chausseestr. 128/129
10115 Berlin
Tel.: 030.4000588-0
Fax.: 030.4000588-88
e-Mail: kontakt@dakj.de
Internet: www.dakj.de